Lehrer
Diesen Text brachte ich auf meine Webseite, weil mich Frau Endres drum bat. Einleitung und Geschichte sind von ihr und ich wäre dankbar, wenn man sich bei etwaigen Rückfragen auch direkt an sie wenden würde. Ihre sehr interessante Webseite mit wunderschönen Geschichten finden Sie hier.
Liebe Lehrer, Erzieher und Eltern!
Es ist schwierig, mit Kindern über das Thema Missbrauch zu reden.
Sicher, wir sagen ihnen: Geh nicht mit Fremden mit!
Aber wir wissen auch, dass Missbrauch zum allergrößten Teil in der Familie oder im engen Freundeskreis geschieht. Es sind oft Personen, denen die Kinder vertrauen, die sie lieben, denen sie Loyalität entgegenbringen.
Kinder müssen darin gestärkt werden, Missbrauch zu erkennen, denn nur dann können sie sich dagegen wehren.
Nur wie macht man das?
Vor dieser Frage stand auch ich, als ich mit meiner vierten Klasse über dieses sensible Thema sprechen wollte.
Zu diesem Zweck habe ich mir dann folgende Geschichte ausgedacht, die von den Kindern sehr gut verstanden wurde.
Der Text soll sensibel machen für Übergriffe, aber ebenso soll er Kindern, die bereits leidvolle Erfahrung gemacht haben, ermöglichen, über die Identifikation mit Mira, den Missbrauch als solchen zu erkennen und sie stärken, diesen zu offenbaren.
Im Unterrichtsgespräch konnte ich alle wichtigen Lernziele zum Thema herausarbeiten:
Es ist möglich, dass ein Mensch, den ich gut kenne und dem ich vertraue, mein Vertrauen missbraucht. Es gibt gute und schlechte Geheimnisse. Wie kann ich sie unterscheiden? Ich muss mein Wort nicht halten, wenn es sich um ein schlechtes Geheimnis handelt. Ich allein habe das Recht zu entscheiden, wer mich wo berühren darf. Ich muss keine Zugeständnisse machen, wenn ich mich dabei nicht wohl fühle. Der Mensch, der mich missbraucht, macht etwas sehr Schlimmes, für das er gerade stehen muss. Die Gründe, warum er es tut habe ich nicht zu vertreten. Eine Entschuldigung gibt es nicht. Ich muss kein Mitleid haben! Ein Mensch, der mich missbraucht, hat keinen Anspruch mehr auf meine Loyalität. Wem kann ich mich anvertrauen? Was soll ich machen, wenn man mir nicht glaubt? Wo bekomme ich dann Hilfe?
Ich habe meinen Schülern die Geschichte vorgelesen und an manchen Schlüsselstellen eine längere Pause gemacht, so dass die Kinder sich aufgefordert fühlten, Fragen zu stellen oder ihre Eindrücke und eigene Erfahrungen zu schildern.
Wo diese Pausen zu machen sind, bietet der Text an, andererseits mag es auch davon abhängen, wie die Gruppe oder das einzelne Kind darauf reagieren.
Die Geschichte bleibt am Schluss offen, um alle möglichen Reaktionen der Mutter mit der Klasse zu besprechen, vor allem auch den Fall, dass die Mutter Mira einfach nicht glauben kann.
Die Lösungen, die von den Kindern selbst dazu herausgefunden wurden:
einer Freundin davon erzählen einem nahen Verwandten etwas sagen, sich der Lehrerin anvertrauen auf jeden Fall darüber sprechen Den Hinweis auf Kindernotrufstellen und wie man sie erreicht, erhielten die Kinder ergänzend von mir.
Die Klasse nahm die Geschichte mit großer Spannung und Beteiligung auf.
Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie bei den Kindern Angst erzeugte. Der vorherrschende Tenor war Entrüstung, Wut und Aggression gegen den Missbraucher.
Es entwickelten sich lebhafte Phantasien, wie man sich wehren könnte, die zwar zumeist wirklichkeitsfern waren, aber zeigten, dass meine Intention, die Kinder zu stärken und wehrhaft zu machen, Früchte trug.
Im Nachhinein erfuhr ich übrigens, dass Kinder aus dieser Klasse ein Jahr später den Missbrauch durch einen Fußballtrainer aufdeckten. – Die intensive Auseinandersetzung mit diesem Problem hatte offenbar ihr Ziel erreicht. Brigitte Endres
Miras Geheimnis
von Brigitte Endres
Es läutet.
Papa steht vom Tisch auf und geht zur Haustür.
„Du bist es Rudi!“, hört Mira ihn sagen.
Sie kriecht ganz tief in ihren Stuhl hinein.
„Du kommst genau richtig zum Abendessen. Da wird Mira sich aber freuen!“
Mira hört die beiden Männer an der Garderobe hantieren. Gleich kommt er rein!, denkt sie.
„Setzt dich grade hin!“, befiehlt Mama und gibt Mira einen kleinen Schubs. Widerwillig richtet sie sich auf.
„Seht mal, wer gekommen ist!“, sagt Papa und schiebt seinen Schulfreund in die Küche.
Mira heftet ihren Blick fest auf den Teller.
„Willst du Rudi nicht guten Tag sagen?“, fordert Papa sie auf.
„Mir ist schlecht!“, presst Mira heraus, springt vom Stuhl und rennt so schnell sie kann ins Badezimmer.
Mama kommt ihr nach.
„Was ist denn mit dir los?“, fragte sie. „Eben ging es dir doch noch gut!“
„Bauchweh“, sagt Mira leise.“
„Dann ist es wohl besser du machst dich fertig fürs Bett. Ich komme nachher noch mal zu dir rauf.“
Mira schaut in den Spiegel. Ein zehnjähriges Mädchen mit blonden Haaren und Sommersprossen sieht ihr entgegen.
Ein ganz normales Mädchen! - Kein normales Mädchen!
Nicht mehr seit heute!
Flüchtig putzt sie sich die Zähne. Aufs Duschen verzichtet sie. Sie will heute nicht im Bademantel über den Flur laufen. Im Kinderzimmer wühlt sie ein langärmliges Nachthemd aus der Kommode. Hastig zieht sie es über und schlüpft ins Bett.
Hoffentlich kommt er nicht mit, wenn Mama gute Nacht sagt, denkt sie.
Mama streckt den Kopf durch die Tür.
„Du bist ja schon fertig!“
Sie kommt herein, setzt sich ans Bett und legt ein Päckchen auf den Nachttisch.
„Was hast du denn da an?“, wunderte sie sich. „Mitten im Juli ein Flanellnachthemd. Ist dir etwa kalt?“
Mira nickt. Mama macht ein besorgtes Gesicht und legt ihre Hand auf Miras Stirn.
„Fieber hast du nicht. Aber vielleicht brütest du ja was aus. Schade, ausgerechnet heute, wo Rudi da ist. – Ach ja! Schau mal, das hat er dir mitgebracht!“
Mama deutet auf das Päckchen. Mira wendet den Kopf ab.
„Willst du nicht wissen, was drin ist?“, fragt die Mutter erstaunt.
„Morgen“, sagt Mira leise.
„Dir scheint es wirklich nicht gut zu gehen, wenn du nicht mal neugierig bist, was Rudi dir mitgebracht hat. Er verwöhnt dich aber auch zu sehr. Immer die vielen Geschenke! Er hatte schon einen Narren an dir gefressen, als du noch ein Baby warst.“
Mira fühlt einen dicken Kloß im Hals.
Mama hat Recht. Sie kennt Rudi von klein auf und sie hat sich bisher immer gefreut, wenn er kam. Er hat ihr das Meerschweinchen geschenkt, ihr das Rad fahren beigebracht und das Schwimmen.
Aber jetzt gibt es das Geheimnis, das Geheimnis, das alles kaputt gemacht hat.
„Morgen geht es dir bestimmt besser.“ Mama steht auf und geht zur Tür.
„Mama?“
Die Mutter dreht sich um. „Brauchst du noch etwas?“, fragt sie.
Mira schüttelt den Kopf.
„Was hast du auf dem Herzen?“ Mama kommt zurück und setzt sich wieder ans Bett.
„Das darf ich nicht sagen“, sagt Mira mit tonloser Stimme. „Ich habe es versprochen.“
„Wenn man was versprochen hat, soll man es auch halten“, erwidert Mama und stopft die Decke um Mira fest.
Mira nickt. „Ich weiß!“ Sie dreht das Gesicht zur Wand. „Gute Nacht, Mama!“
Die Mutter beugt sich über sie. „Aber es gibt auch Ausnahmen. Es gibt nämlich gute und schlechte Geheimnisse. Über schlechte Geheimnisse darf man sprechen, man muss sogar.“
Mira dreht sich wieder um. „Wie merkt man, ob es ein gutes oder ein schlechtes Geheimnis ist?“
„Das spürt man. Gute Geheimnisse machen Freude, z.B. die Vorfreude, wenn man jemandem ein Geschenk machen will. Schlechte Geheimnisse machen Kummer und bedrücken einen“, erklärt Mama und schaut Mira prüfend an.
Mira weicht ihrem Blick aus.
„Ich glaube, du musst erst darüber nachdenken, ob dein Geheimnis gut oder schlecht ist“, meint Mama. „Vielleicht sollten wir morgen darüber sprechen.“ Sie gibt Mira einen Kuss, knipst das Licht aus und geht aus dem Zimmer.
Mira zieht die Decke über den Kopf und versucht einzuschlafen.
Plötzlich spürt sie eine große Hand auf ihrem Bein. Die Hand kriecht hoch, immer weiter, immer weiter … Dahin, wo niemand hinfassen darf! Mira will sich wehren, aber sie kann nicht. Sie ist wie gelähmt. Sie muss die Hand über sich ergehen lassen.
Mira schreit.
Das Licht im Kinderzimmer geht an.
„Hast du schlecht geträumt?“ Papa kommt ans Bett.
Mira klammert sich an ihn. Er wischt ihr den Schweiß von der Stirn.
„Willst du ein bisschen zu uns runterkommen? Wir sitzen mit Rudi noch im Wohnzimmer und plaudern.“
Mira sieht ihn entsetzt an und schüttelt heftig den Kopf.
„Dann versuch, wieder einzuschlafen! Ich lass die Tür einen Spalt offen.“
Der Traum sitzt Mira noch in den Gliedern. Nein, einschlafen will sie nicht mehr. Der Traum könnte wiederkommen.
Der Traum hat mit dem Geheimnis zu tun!
Sie hat solche Angst!
Was ist, wenn die Eltern mir nicht glauben?, denkt sie.
Mira wälzt sich verzweifelt von einer Seite auf die andere.
In letzter Zeit war Mira aufgefallen, dass Rudi öfters versucht hatte, sie anzufassen, ihr im Schwimmbad beim Abtrocknen zu helfen oder ihr eine Turnübung auf dem Teppich zu zeigen, aber sie hatte sich nichts dabei gedacht.
Doch seit er sie heute auf dem Schulweg abgepasst hatte, um sie nach Hause zu fahren, weil er angeblich zufällig vorbeigekommen war, weiß Mira nicht mehr, was sie von Rudi halten soll.
„Hast du nicht Lust, einen Abstecher zum Fluss zu machen? Ich bringe dir das Wassermännchen-Werfen bei!“, hatte er plötzlich vorgeschlagen.
Rudi ist Weltmeister im Wassermännchen-Werfen. Er kann einen flachen Stein auf der Wasseroberfläche bis zum anderen Ufer tanzen lassen.
Mira denkt daran, wie sehr sie sich zuerst über seine Idee gefreut hatte.
Rudi war sehr geduldig gewesen. Unermüdlich hatte er geeignete Steine gesucht und ihr die Technik erklärt. Dabei hatte er ihr die Hand geführt und sie ganz fest an sich gedrückt.
Unangenehm fest!
Schließlich hatte er sich ans Flussufer gesetzt und sie zu sich hinuntergezogen.
„Meine kleine Mira“, hatte Rudi gesagt. „Du bist so ein hübsches Mädchen geworden.“
Und auf einmal war ihr Rudi seltsam fremd.
Mira zieht die Decke noch ein bisschen weiter hoch. Es war so schrecklich!
Rudi beginnt sie zu streicheln. Sie versucht ihn abzuwehren, aber seine Hände werden immer unverschämter.
Sie will aufstehen und davonlaufen. Aber er hält sie zurück.
„Stell dich nicht so an! Wenn man sich lieb hat, darf man sich streicheln. Du hast mich doch auch lieb?“
Mira fühlt sich angewidert, versucht den Händen auszuweichen. Aber sie schafft es nicht. Er ist viel kräftiger. Die Hände machen was sie wollen.
Plötzlich entdeckt Mira zwei Spaziergänger.
„Da kommt jemand!“, ruft sie.
Rudi lässt sofort von ihr ab.
Mira springt auf und läuft weg. Rudi rennt ihr nach.
„Jetzt warte doch mal!“, schreit er und hält sie fest. „Ich fahre dich heim!“
Aber das will Mira nicht. Sie kennt den Weg nach Hause.
„Das bleibt aber unser Geheimnis!“, sagt Rudi eindringlich. „Deine Eltern glauben dir das sowieso nicht. Ich bin der beste Freund deines Vaters. Wir kennen uns von Kind auf. Wenn du was sagst, denken alle schlecht von dir. Alle werden denken, du lügst! Und dann sind deine Eltern sehr traurig. Das heute, bleibt unter uns! Versprich es!“
Mira nickt. Sie will bloß eines: Er soll sie loslassen!
„Wir bleiben doch Freunde? Oder?“, fragt Rudi. „Es ist doch schön, wenn man sich lieb hat.“
Er zieht den Autoschlüssel heraus und geht zum Parkplatz.
Mira rennt davon.
Jetzt liegt sie im Bett und ist schweißgebadet.
Unten geht die Wohnzimmertür.
„Gott sei Dank! Er geht weg!“, denkt Mira erleichtert.
Sie hört, wie sich die Eltern von Rudi verabschieden und die Haustür hinter ihm ins Schloss fällt.
Sie steigt aus dem Bett und läuft hinunter.
Mama räumt Gläser in den Geschirrspüler.
„Mama!“
Mama dreht sich nach ihr um.
„Es ist ein schlechtes Geheimnis“, sagt Mira.
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© 2006 by Brigitte Endres